Jean-René und ich kennen uns aus einer Zeit ohne Internet, ohne E-Mail, ohne Smartphone – und natürlich ohne KI. Wir haben zusammen 1990 Abitur gemacht. Und Jean-René hatte damals schon einen Computer, auf dem er die Inhalte für unsere Abizeitung für den Druck vorbereitete. Ich dachte damals, dass ich niemals einen Computer brauchen würde.
Wir haben uns in all den Jahren selten einmal ausgetauscht – wenn, dann aber immerhin schon per E-Mail. Neulich erst sind wir auf LinkedIn wieder aufeinandergestoßen. Beide machen jetzt irgendwas mit KI. Verrückt. Ich habe Jean-René 45 Minuten lang zu diesem Thema gelöchert, und er hat mir bereitwillig und detailliert erklärt, welche Rolle künstliche Intelligenz bei Crossbase spielt, dem Software-Unternehmen, in dem er arbeitet.
Ich: Was macht ihr bei Crossbase eigentlich?
Jean-René: Crossbase gibt es seit 23 Jahren, und wir machen Software fürs Product Information Management, kurz: PIM. Im Gegensatz zu ERP-Systemen ist PIM nicht kaufmännisch ausgerichtet. Es geht bei uns auch nicht darum, den Lagerbestand zu verwalten. Unsere Kunden wollen vielmehr ihre Produkte in einem Online-Shop, in einem gedruckten Katalog oder in Broschüren vermarkten. Dazu muss man alle Informationen zum Produkt für die jeweilige Zielgruppe aufbereiten.
Jean-René Thies, Crossbase
Lass uns mal ein Beispiel machen. Nehmen wir eine Wasserflasche aus Glas …
Jean-René: … dann steht im ERP-System, wie schwer sie ist. Das ist für die Logistik wichtig. Außerdem steht dort, welches Volumen sie hat und welche Füllmenge, vielleicht auch der Preis, also alles, was man für eine warenwirtschaftliche Abwicklung braucht. Um die Flasche im Internet zu verkaufen, braucht man zusätzlich einen Beschreibungstext, Fotos mit mehreren Ansichten, Infos zum Verkaufsland und so weiter. Das organisiert das PIM. Allerdings sind unsere Produkte viel komplexer als eine Flasche. Bei uns geht’s um ein Motorrad, Wandfarbe oder Bauelemente. Bei Letzterem stecken ganz viele technische Informationen drin, die für die Warenwirtschaft nicht relevant sind. Wir beschreiben das Produkt mit seinen Eigenschaften, so, dass man es aufgrund seiner Eignung finden kann.
Und was genau ist deine Aufgabe?
Jean-René: Ich arbeite viel mit Bestandskunden. Sie haben ständig neue Anforderungen und wir begleiten sie bei der Umsetzung. Beispielsweise kommen bei ihnen neue Verkaufskanäle dazu. Dann müssen die Daten auf eine bestimmte Art aufbereitet werden. Oder es soll eine Onlinefiliale in einem neuen Land dazukommen. Dann muss man schauen, wie man den Zugriff aus den USA auf eine Datenbank in Deutschland regelt. Außerdem begleite ich Neukunden. Es dauert mehrere Monate, manchmal ein Jahr lang, bis die Software zu einhundert Prozent läuft. Außerdem bin ich Geschäftsführer unserer französischen Filiale.
Okay, das habe ich verstanden. Wie kommt jetzt künstliche Intelligenz ins Spiel?
Jean-René: Wir arbeiten seit 2017 mit KI. Wir schauen, was funktioniert, was nicht, versuchen immer am Ball zu bleiben. Wenn du weniger als 100 Produkte hast, brauchst Du wahrscheinlich keine Datenbank, dann kannst du alle notwendigen Informationen irgendwo im Laufwerk und in Excel abspeichern und verwalten. Unsere Kunden haben typischerweise 20.000 Produkte und mehr, manche sogar zwei Millionen Produkte, die in 30 Sprachen und hundert Ländern vorgestellt werden müssen. Das funktioniert nur mit Software.
Künstliche Intelligenz hilft zum Beispiel, herauszufinden, bei welchem Produkt noch die Pflichtinformationen fehlen. Das spart enorm viel Zeit. Außerdem hilft KI beim Übersetzen der Produktinformationen, und zwar direkt in der Datenbank. Alle Texte werden aber nochmals von Menschen geprüft, bevor wir sie veröffentlichen.
Du hast auch angedeutet, dass ihr Bildgeneratoren in die Datenbank integriert habt?
Jean-René: Ja. Sie helfen uns bei der Verschlagwortung der Bilder. Aber wir können damit auch den Hintergrund entfernen oder ich kann ein ganz neues Bild generieren. Falls diese Bilder in Zukunft gekennzeichnet werden müssen, lässt sich das auch einfach über die Datenbank regeln.
Interessant! Es gibt immer wieder Forderungen, KI jetzt zu stoppen. Würdet ihr noch darauf verzichten wollen?
Jean-René: Ich glaube, unsere Kunden möchten nicht mehr darauf verzichten. Man muss auch sehen, dass es bei unseren Anwendungen nicht um die Verletzung von Urheberrechten oder Arbeitsplatzabbau geht. Denn bei uns findet etwas statt, das es früher einfach nicht gab. Kein Mensch hätte diese Arbeit von Hand gemacht – und das in dieser guten Qualität. Das sind monotone, repetitive Aufgaben, stumpfsinnig, das kann die künstliche Intelligenz deutlich besser als der Mensch.
Vermutlich wissen nicht viele Menschen, dass es viele Onlineshops ohne den Einsatz von KI gar nicht gäbe.
Jean-René: Ja, unser Einsatz von künstlicher Intelligenz ist anders als das, was man in der breiten Öffentlichkeit zu diesem Thema so wahrnimmt. Gesellschaftliche Auswirkungen hat unser Einsatz trotzdem. Die Betriebe sind technische Vorreiter mit großem Interesse an KI und einer sehr niedrigen Hemmschwelle, was technische Innovationen anbelangt.
Ich würde das sogar noch ergänzen: Die Unternehmen beschäftigen ja Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die mit der KI arbeiten. Sie tragen also vielleicht nach Hause, was im Betrieb möglich ist. Eventuell haben sie durch ihre Arbeit auch eine andere Einstellung gegenüber generativer künstlicher Intelligenz als ein Großteil der Gesellschaft. Nutzt ihr selbst denn auch KI?
Jean-René: Wir wollen wie unsere Kunden unser Produkt, unsere Software international vermarkten. Das heißt wir übersetzen die Benutzeroberfläche, die technische Dokumentation unsere Website, unsere Broschüre und alles, was wir veröffentlichen, in drei bis fünf Sprachen. Weil unsere Software ständig weiterwächst, gibt es immer Übersetzungsbedarf. Bevor wir KI hatten, haben wir eine Übersetzungsagentur beauftragt. Weil diese aber nicht den Kontext kannte, haben sie manche Sachen falsch übersetzt. Das wurde dann meist erst sehr spät entdeckt. Die Übersetzungsagentur verdient jetzt leider nicht mehr an uns, dafür aber DeepL. Wir sind so schneller und haben die besseren Übersetzungen.
Einen eigenen KI-Chatbot wollt ihr aber nicht bauen?
Jean-René: Nein. Eine KI zu bauen und zu trainieren, das ist eine sehr große Sache. Wir sind 50 Leute, die meisten sind Programmierer, aber dafür müssten wir deutlich mehr Leute einstellen. Wenn es etwas gibt, was eine technische Schnittstelle bietet und ein Abo-Modell, dass man einfach kaufen kann, dann ist das für uns viel einfacher, das anzubinden. Dann müssen wir das Rad eben nicht neu erfinden.
Macht ihr euch eigentlich Gedanken, dass eure Kunden nicht mehr gefunden werden, wenn immer mehr Menschen mit KI-Tools suchen und nicht mehr über herkömmliche Suchmaschinen?
Jean-René: Nein. Unsere Kunden sind überwiegend im B2B-Bereich tätig. Ihre Informationen stehen auf Fachportalen, oft hinter der Paywall. Diese Informationen werden bisher nicht von Google indexiert und auch KI-Tools haben keinen Zugriff darauf. Da ändert sich nichts.
Eigentlich ist das der Weg, den Medienhäuser gehen müssten: Eine Community aufbauen und die Informationen hinter der Paywall verstecken, oder?
Jean-René: Ja, ich habe Anfang des Jahrtausends auch bei einem Medienhaus gearbeitet. Die Branche hat sich damals mit den Gratis-Texten ein Bein gestellt, Werbebanner allein, bringen nicht genügend Geld. Ich hoffe, dass sie aus diesen Erfahrungen gelernt hat und dieses Mal diesen Wandel in irgendeiner Form besser macht.
Es ist ja ein bisschen absurd. Über Jahrzehnte haben die Medienhäuser gegen Google gewettert und wollten immer ein Stück von deren Kuchen abhaben. Jetzt, wo Google als Trafficbringer an Einfluss verlieren könnte, weinen sie dem System hinterher – wenn sie überhaupt schon begriffen haben, was da auf sie zukommt.
Jean-René: Ich glaube aber, dass Fachkompetenz noch eine ganze Weile nicht durch KI ersetzt werden kann. Denn du weißt heute nie, wie und mit welchem Input ein KI-Modell gelernt hat, weißt nie, ob das tatsächlich aktuell ist, richtig ist. Wenn du also etwas brauchst, auf dass du dich verlassen kannst, ist KI sehr oft nicht geeignet.
Damit kommen wir zum Schluss: Ist KI Fluch oder Segen?
Wenn du nicht genau weißt, was die KI gut kann und wenn du ihr blind vertraust, dann rennst du irgendwann gegen eine Wand, dann fällst du auf Halluzinationen rein. Wenn du nicht nachprüfst, was eine KI sagt, trägst du das als gefühltes Wissen weiter und vergrößerst damit schlimmstenfalls bei anderen noch deren Probleme. Ich glaube, KI-Wissen muss schon in der Schule gelehrt werden, also bei der Medienbildung. KI ist ein Werkzeug. Man kann damit gut Sachen machen, aber man hat auch eine Verantwortung dafür. Das ist wie bei einer Kettensäge oder bei einem Bagger: Du musst das Ding bedienen können.
Für archäologisch-technisch Interessierte: der Anfangs erwähnte 1990er Computer war ein Apple IIe, Vorgänger des ersten Macintosh. Keine Maus, keine Festplatte, monochromer Bildschirm. Aber mit kreischendem Nadeldrucker, der schon Blocksatz (= alle Zeilen mit gleicher Länge) mit nicht-proportionaler Schrift (= Buchstaben verschieden breit) kombinieren konnte.
Der Informatiklehrer hat es beim ersten Durchblättern sofort erkannt!
Wow! Wie spannend. War das Herr Hummel?
Herr Fütterer!
Fütterer! Richtig!