Klaviermusik ertönt. Unterlagert vom emsigen Summen der Onlinemarketing Konferenz DMEXCO. Trotzdem merke ich, dass ich in diesen 90 Sekunden mit klassischer Musik etwas ruhiger werde. Das ist auch dringend nötig, denn die Stimmung auf der Konferenz ist nervig laut, aufgeregt und von den aktuellen Krisen gezeichnet.
Die letzte Veranstaltung, die ich in diesen zwei Tagen besuche, ist die Podiumsdiskussion „Courage and Creativity for depressing Times“. Hinter diesem mutmachenden Titel steht das Wirtschaftsmagazin Brand Eins. Passend zum Titel leuchtet ein Cover auf der Bühne, das schon einige Jahre alt ist: „Keine Sorge. Das ist schon wieder nicht das Ende“. Tröstlich finde ich. Tröstlich in Bezug auf die Weltsituation mit Krieg, Energie- und Klimakrise. Aber auch für mich selbst: 2023 werde ich 20 Jahre selbstständig sein. Hoffentlich. Denn aktuell scheinen alle meine Kund*innen eingefroren zu sein. Vermutlich, weil auch sie nicht wissen, was die kommenden Monate bringen. Trotzdem: Eine solche Auftragssituation wie derzeit habe ich in den beiden Jahrzehnten noch nie erlebt.
DMEXCO: Krisen sind hilfreich
Grund genug, mir diese Diskussion anzuhören. Und ich nehme viel davon mit: Eva Wimmers, Transformationsexpertin, hält Krisen für einen optimalen Zeitpunkt, um sich zu verändern. Schließlich ist der Druck hoch, zu handeln. Anne Koark, Expertin für Fehler, hat alles verloren: Wohnung, Versicherungen, Altersrücklagen, Auto – und sich von ganz unten mit viel Humor und Selbstreflexion wieder aufgerappelt. Bernhard Zünkeler, Künstler und Wirtschaftsjurist, hält Disruption für einen guten Anstoß, um die Kreativität in den Fluss zu bekommen. Seda Röder, Expertin für Innovationsmanagement, sagt, man müsse aufhören, Opfer zu sein. Denn Opfer seien passiv. Nur, wer selbst handelt, kann am Ende zum Helden oder zur Heldin werden.
Die Diskussion hat zwar meine Probleme mit der Auftragslage nicht gelöst, aber immerhin für einen gewissen Optimismus gesorgt. Interessanterweise ging diese Veranstaltung über 60 Minuten. Vielleicht lag es daran, vielleicht auch an der fortgeschrittenen Zeit: Die Stuhlreihen waren leider sehr leer. Dabei hat sich gerade diese Diskussion auch durch ihre Länge so wohltuend von der ansonsten eher auf Snack Content – passend zur Branche – und sehr aufgeregten Konferenz abgehoben.
Was ich mir sonst noch angehört habe
- Handelsblatt Media Group Summit: Ein women-only Panel! Toll! Leider waren die Teilnehmerinnen trotz Mikro in dem Getöse der Halle kaum zu verstehen.
- Sustainable Media: Dass ausgerechnet Nestlé sich um die Nachhaltigkeit von Medienerzeugnissen kümmert. Ihr wisst schon: Kitkat, Palmöl, Orang-Utan. Die Quintessenz von dem, was ich gehört habe: Mit weniger oder gleichen Kosten effizienter die eigene Marken auf allen Kanälen zielgruppengerecht bekannter machen. Letztlich versteht sich das doch von selbst, oder?
- HR und Content Marketing: Mit Content Marketing erreichen Personaler auch diejenigen, die gar nicht vorhaben, zu wechseln. Guter Ansatz.
- Pinterest: It’s different here. Pinterest sieht sich selbst als Licht im Dunkel des mit Desinformationen gefüllten Internet. L’Oreal erklärt, wie man dort neue Zielgruppen erschlossen hat. Soweit ganz nett. Wenn ich aber nach Finanzthemen auf Pinterest suche, finde ich dort viel Dunkel, oder anders gesagt: Posts, die zu Internetseiten hart an der Grenze der Seriosität stoßen. Hinzu kommt, dass ich diese Woche auf einer Pressekonferenz der TU Berlin zum Thema „Digital Reset. Redirecting Technologies for the Deep Sustainability Transformation“ gehört habe, dass Pinterest kein öffentlich zugängliches Klimaversprechen gegeben hat. Damit stellt es sich selbst auf die gleiche Stufe wie Alphabet oder Meta, die zwar von sich sagen, etwas tun zu wollen, aber auch keine konkreten Ziele nennen. (Seite 81 im PDF).
- How Twitter can drive your business. Toll ist, dass die CCO auf der Bühne ist, die Chief Commerce Officer. Dass sie aber sagt, in Deutschland wachse die Zahl der Twitter-User*innen ständig, und man habe hier vor allem gebildete Nutzer*innen, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Wer die Zahlen der ARD/ZDF-Onlinestudie seit Jahren verfolgt, weiß dass der Anteil der Twitter-Nutzer*innen in Deutschland sehr klein ist. Und wer selbst Twitter nutzt, weiß, dass es dort sehr, sehr viel Müll, Desinformation und Hass gibt.
Was ich an Tag 2 noch mitnehme
An Tag 2 habe ich ein deutlich kürzeres Programm. Ich schaue in zwei Masterclasses und nehme mit: Willst du etwas mehr als Blabla, solltest du in eine solche Masterclass gehen. Früher hat man so etwas einfach Vortrag genannt. Und ja, in 30 Minuten Vortrag ist nicht viel Inhalt möglich. In den Masterclasses aber immerhin mehr als in den sonst eher 10- bis 20minütigen Snack Content Formaten, in denen teilweise nicht mehr rüberkommt als: „Poste jetzt ein Foto dieser Session und gewinne ein Coaching im Wert von über 4000 Euro“.
- Masterclass 1: SEO und PR. Nix Neues. Aber Bestätigung ist auch wichtig.
- Masterclass 2: Tipps für das perfekte Social Media Video. Nichts Neues. Aber Bestätigung ist auch wichtig.
Und danach das besagte Brand Eins Panel. Gut, dass ich dort war. Das versöhnt mich doch sehr mit der diesjährigen DMEXCO. Ob ich auch 2023 nochmals hingehen werde – ich weiß nicht. Vielleicht bin ich dafür auch einfach zu alt.
Ich war als Journalistin akkreditiert und habe entsprechend keine Eintrittsgebühr bezahlt.
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